Botschaften aus der Vergangenheit – Poterne III

Es ist eine späte Entdeckung: Sieben Jahrzehnte überdauerten Botschaften von Häftlingen des Ghettos Theresienstadt.

Namen, Ortsnamen, Jahreszahlen und bildnerische Darstellungen ritzten sie 1944 in den Sandstein von Wänden in der Hoffnung, dass diese der Nachwelt erhalten bleiben und ihre Geschichte erinnert wird.

Dieser Wunsch blieb unerfüllt: Die Zeugnisse wurden vergessen – bis heute.

Als im Jahr 2005 ein Festungstor, die Poterne III, nach jahrzehntelanger militärischer Nutzung freigelegt wurde, trat eine Überraschung zutage: Unzählige Graffiti waren in den Sandstein geritzt, darunter viele, die kaum zu entziffern sind. Unübersehbar jedoch die Jahreszahlen 1942, 1943 und 1944. Wer genau hinschaut, erkennt schließlich Symbole für Hoffnung und Glauben, Signaturen, Transportnummern, Namen und Daten.

Die Urheber waren zumeist Häftlinge oder Mitglieder der Ghettowache, die ihrerseits aus Häftlingen gebildet wurde. Fast siebzig Jahre lang hat dieser Ort sein Geheimnis bewahrt. Und bislang wurden diese Zeugnisse nicht gewürdigt. Wir wollen dies ändern und versuchen, die Lebenswege der Urheber zu rekonstruieren.

ZITIERHINWEIS

Fischer, Uta, Theresienstadt 1941-1945 – Materielle Zeugnisse und Spuren. Poterne III, Berlin 17.4.2015, (Zugriffsdatum).

URL: https://ghettospuren.de/poterne-3/

Interaktive Karten

Zwei Karten vermitteln einen authentischen Eindruck von dem Ort, wie er heute aussieht. Informationen zu insgesamt 23 Ritzungen wurden ausgewählt und können über Pins abgerufen werden. Erkunden Sie jetzt die Spuren …

Vorgeschichte

Im öffentlichen Stadtraum von Terezín gibt es neben den Gleisen am Stadtausgang nur wenige sichtbare Spuren, die der Zeit des Ghettos zuzuordnen sind. Die Poterne III nimmt hier einen absoluten Sonderstatus ein. Nicht nur, weil der Ort normalerweise frei zugänglich ist, sondern auch, weil hier auf engstem Raum so viele Zeugnisse und Spuren von Häftlingen zu finden sind. Einwohner Terezíns und Besucher nehmen diese wahr, konnten sie aber bis heute nicht würdigen, weil es an Informationen fehlt: Bislang gab es keine Inventarisation und keine Dokumentation. Dazu passt auch, dass vor Ort weder eine Hinweistafel oder andere Informationen zu den Inschriften zu finden sind.

2005 wurden Roland Wildberg und ich bei einem unserer zahlreichen Streifzüge durch die Stadt erstmals darauf aufmerksam. Damals entstand bereits eine erste kleine Fotoserie. In den Jahren 2011, 2012 und 2013 kehrten wir an den Ort zurück, um weitere Aufnahmen zu machen – zehn Tage nach dem letzten Besuch stand die Poterne infolge von Hochwasser (Juni 2013) unter Wasser. Danach war der Zutritt aufgrund von Sicherheitsvorkehrungen und Baumaßnahmen im Zusammenhang mit Flutschutzmaßnahmen lange Zeit nicht möglich.[1]

Bestandsaufnahmen und historische Recherchen

Als wir 2014 unsere Arbeit wieder aufnahmen, stellten wir fest, dass die Feuchtigkeit im Bauwerk nicht ohne Folgen geblieben war. Angesichts der nun auch sichtbaren Abtragung der Oberfläche des Sandsteins haben Namen und bildnerische Darstellungen ihre Konturen sichtbar eingebüßt. Trotzdem gelang es, auch bei einigen stark zerstörten Ritzungen die ursprüngliche Inschrift zu ermitteln.

Roland Wildberg übernahm die fotografische Dokumentation, ich selbst suchte in Archiven und Datenbanken nach Informationen. Als wertvolle Hilfe erwies sich die Datenbank der Gedenkstätte Terezín, mit deren Hilfe viele Urheber ausfindig gemacht werden konnten. Stück für Stück wurden die zusammengetragenen Daten wie Steinchen in einem Mosaik zu einem Ganzen zusammengesetzt. Es war keine einfache Aufgabe, denn außer den Fragmenten eines Namens und ein paar Jahreszahlen gab es kaum weitere Anhaltspunkte.

Ein Beispiel: Dank der Platzhalterfunktion bei der Suche in der Datenbank der Gedenkstätte, gelang es selbst aus Bruchstücken noch die Namen von Häftlingen herauszufinden. So konnte beispielsweise der Name Ernst Gladtke rekonstruiert werden. Gladtke stammte aus Deutschland und war bis 1944 in Theresienstadt inhaftiert. Die Buchstaben „E“ und eine Buchstabenfolge „TKE“ sowie die Jahreszahlen 1943 und 1944 waren die einzigen konkreten Hinweise.

Die weitere Recherche zur Person Ernst Gladtke führte schließlich zur Entdeckung von zwei Fotos im Archivbestand der Gedenkstätte Terezín, die Jiří Lauscher kurz nach der Befreiung im Jahr 1945 aufnahm. Er war ebenfalls Häftling im Ghetto Theresienstadt gewesen und erkannte schon damals, kurz nach Kriegsende, die herausragende Bedeutung der Zeugnisse. Die beiden Fotos, die nur die exponierten Abschnitte der Poterne III zeigen, sind eine einzigartige Momentaufnahme, der man die ursprüngliche Intention der Häftlinge noch ablesen kann.

Die Dokumentation dieser Spuren, wichtigstes Ziel unserer Arbeit, ist nunmehr für alle Besucher dieser Seiten sichtbar. Doch es bleibt viel zu tun: Neben fehlenden Quellen – Zeitzeugenberichte über diesen Ort konnten bisher nicht gefunden werden – mangelt es bis heute vor allem an grundsätzlichem Wissen zur Nutzung im Zeitraum zwischen 1941 und 1945:  Wer hatte außer der Ghettowache noch  Zutritt und warum? Viele Fragen sind noch immer unbeantwortet und werden uns in Zukunft beschäftigen.

Wer waren die Urheber?

Neben der Rekonstruktion der ursprünglichen Inschriften bestimmte die Suche nach den Menschen, die sich hier verewigten, die Recherche. Die Ergebnisse sind ab sofort über zwei interaktive Karten (LINK) abrufbar. Sie werfen ein Schlaglicht auf das Schicksal von zwölf Männer: sechs Tschechen, drei Österreicher und drei Deutsche:

  • Alfred Freund
  • Josef Freund
  • Jiří Meisl / Richard Meisl
  • Benno Nettl
  • Karel Russ
  • Jaroslav Žatečka
  • Max Pizemczy
  • Samuel Rosen
  • Wilhelm Wolf Waltuch
  • Felix Alterthum
  • Ernst Gladtke
  • Berthold Heim
Zum Zeitpunkt als diese Männer die Inschriften hinterließen war der jüngste 16, der älteste 66 Jahre alt. Bis auf drei (die jüngsten) waren alle verheiratet, hatten eigene Kinder und gehörten der jeweiligen Mittelschicht ihres Landes an, bis man sie aus der Gesellschaft verdrängte. Die anfängliche Annahme, dass die Ritzungen von eher jüngeren Personen stammen, hat sich nicht bestätigt.

Im Durchschnitt blieben die Männer zwei Jahre im Ghetto, bis sie zwischen Dezember 1943 und Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert wurden. Vier Männer entkamen zwar dem Massenmord, weil sie in andere KZ zur Zwangsarbeit überstellt wurden, mussten dann aber im Frühjahr 1945 eine andere Hölle durchmachen: die Todesmärsche. Eine Ausnahme stellt Benno Nettl dar, der von der Gestapo 1944 verhaftet wurde und kurz darauf in der Kleinen Festung in Theresienstadt zu Tode kam.


[1] Vom Hochwasser im Juni 2013 war zwar die Stadt selbst nicht betroffen. Im Bereich der Festungsanlagen kam es jedoch zu statischen Problemen, die teilweise bis heute nicht behoben sind.

Vogelperspektive

Das Luftbild zeigt den nordwestlichen Abschnitt der Festung. An dieser Stelle ist die Verteidigungsanlage touristisch erschlossen und wird von den Anwohnern zum Flanieren genutzt. Wo heute das Gras einen halben Meter hoch steht, befanden sich zwischen 1942 und 1945 Nutzgärten. Häftlinge mussten hier Obst und Gemüse anbauen – die gesamte Ernte ging an die SS.

Tunnelblick

Der Zugang in diesen Abschnitt der Festungsanlage ist über einen historischen Tordurchgang möglich – die Poterne III. Die Festungserbauer hatten sie als Ausfalltor gegen feindliche Angriffe vorgesehen. Zu Zeiten des Ghettos wurde sie trotz der Fluchtgefahr nicht verschlossen, sondern lediglich bewacht. Möglicherweise wurde sie als Zugang zu den Gemüsegärten genutzt.

Lebenszeichen

Nahe dem Torausgang auf der Grabenseite fallen auf beiden Seiten des Durchgangs unzählige Graffiti ins Auge. Erosion und Vandalismus haben jedoch schon viele dieser Zeugnisse fast bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Bei den Inschriften handelt es sich nicht nur um Ritzungen aus der Zeit des Ghettos, sondern auch um weitaus ältere Spuren aus dem 19. und 20. Jahrhundert.

Abschnitt der Südwand der Poterne III im Jahr 1945.
© Památník Terezín A 1896

Unten: Abschnitt der Nordwand der Poterne III im Jahr 1945
© Památník Terezín A 1900

Erinnerungsort der Ghettowache

Dem mittleren Abschnitt der Südwand kommt besondere Bedeutung zu: Das Gesamtbild lässt keinen Zweifel daran, dass es sich um die Entdeckung eines kollektiven Erinnerungsortes handelt, den Ghettowachmänner kurz vor ihrem Weitertransport nach Auschwitz gemeinsam gestalteten. Auch auf der Nordwand konnten verschiedene Zeugnisse identifiziert werden, die belegen, dass in der Poterne III Ghettowachmänner ihren Dienst versahen.

Es sind Zeugnisse selbstbewusster und kreativer Männer, die auf eine individuelle und sehr eigene Art eine Erinnerung an ihren Zwangsaufenthalt in Theresienstadt schufen. Im heutigen Terezín existieren zwar noch viele Relikte aus der Zeit des Ghettos, aber nirgends haben Häftlinge etwas annähernd Vergleichbares hinterlassen.

Von drei Männern ist bekannt, dass sie in der Ghettowache tätig waren: Samuel Rosen (Nordwand) und Benno Nettl (Südwand) haben ihre GW-Nummer hinterlassen. Ernst Gladtke (Südwand) tat dies nicht; seine Frau hat jedoch in ihrem Lebensbericht die Tätigkeit des Mannes als GW-Mann erwähnt.

Angesichts der Fülle von Hinweisen auf die Ghettowache ist zu vermuten, dass unter den anderen Namen weitere Mitglieder der Ghettowache zu finden sind. Wilhelm Waltuch, Josef Freund, Felix Alterthum und Karel Russ passen zumindest dem Alter nach in das Muster (ab Juli 1943 lag das Mindestalter der Ghettowache bei 45).

WIR SUCHEN ZEITZEUGEN!

Wer kann sich an die Zeit des Ghettos Theresienstadt (1941–45) erinnern oder kennt Menschen, die damals in der Stadt inhaftiert waren?
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