Q 617 – Kinderheim und zentrale Kinderküche

Máchova 178, 411 55 Terezín, Tschechische Republik

Hauseigentümer vor
Zwangsaussiedlung

Gemeindehaus
Obecní dům

Adresse vor
Zwangsaussiedlung

Marktplatz 178
Náměstí 178

Orientierungs-Nr.
im Ghetto

Q 617 / L 318
Block F IV, 4. Bezirk

Adresse
„Verschönerung“

Rathausgasse 17


Q 617 – ZEUGNISSE UND SPUREN

Wie ein aufgeschlagenes Buch in Übergröße, so präsentiert sich dem Betrachter einer der außergewöhnlichsten Orte Terezíns. Er liegt hoch über den Dächern der Stadt und ist für jeden sichtbar. Die Rede ist vom Turm des heutigen Postgebäudes am Hauptplatz. Hier, im achteckigen Turmzimmer, entstand eine Kulisse, die an berühmte Vertreter der deutschen Minnedichtung des Hochmittelalters und deren Werke erinnert. Wir sehen Wandmalereien mit Szenen aus mittelalterlichen Sagen wie dem Sängerkrieg auf der Wartburg, der zu den großen Mythen der deutschen Geschichte zählt. Drei weitere Darstellungen illustrieren ebenfalls Motive aus der Zeit des deutschen Hochmittelalters. Alle Bilder sind Anlehnungen an die Autorenbilder der Großen Heidelberger Liederhandschrift,1 einer Sammlung, die zu den schönsten und kostbarsten Handschriften des Mittelalters zählt.2

Auffällig ist jedoch, dass alle Motive, so sehr sie der berühmten Liederhandschrift auch ähneln und sie zitieren, auf unterschiedliche Weise verfremdet wurden. Zwei Wandbilder zeigen offenbar antisemitische Bezüge. Fand hier ein Wettbewerb jüdischer Künstler statt, die sich im bildnerischen Paraphrasieren übten und dabei nicht einmal vor dem Zitieren antisemitischer Propaganda zurückschreckten?

Das erscheint recht unwahrscheinlich: Bis Ende Februar 1944 existierten im Turm zwei übereinander liegende Mansarden, die von jeweils vier Männern bewohnt wurden. Bei beiden Räumen handelte es sich um illegale Ausbauten. Weil die obere Mansarde „weder den bautechnischen noch feuerpolizeilichen Vorschriften entsprach“, sollte diese entfernt werden.3 Dies wurde am 26. Februar 1944 von Seiten des Baureferats  bei der Leitung der jüdischen Selbstverwaltung beantragt und offenbar auch durchgeführt.4  Die Nutzung der unteren Turmmansarde wurde nachträglich bewilligt5  und durfte weiterhin als Wohnraum von Häftlingen genutzt werden.

Denkbar ist auch, dass es sich um Auftragsarbeiten der SS für eigene Zwecke handelt. Der gesamte Block F VI (sogenannter Kinderblock)  musste zum 30. August 1944 auf Weisung der  SS-Kommandantur (Dienststelle) geräumt werden und gehörte ab diesem Zeitpunkt nicht mehr zum Bestand der jüdischen Selbstverwaltung. Der Umzug der im Gebäude untergebrachten Kinderheime und Einrichtungen wurde zwischen dem 30. August und dem 5. September durchgeführt.6  Auch das Gebäude Q 617 wurde anschließend von der SS genutzt, und zwar für Diensträume und Wohnungen. Zuvor mussten die gesamte Einrichtung und Nutzungsspuren durch die Häftlinge, dazu zählten auch Ausbauten auf den Dächern, entfernt werden. Mit einer „groben Säuberung“ wurde die Freimachung am 5. September schließlich abgeschlossen. Der Betrieb der Kinderkrippe und des Kindergartens (L 318), der bisher in dem Haus untergebracht war, wurde ab 29. August „bis auf weiteres eingestellt„.7

Bis heute gibt es keine sicheren Erkenntnisse zur Entstehungsgeschichte der Wandmalereien. Neue Ergebnisse sind zu erwarten durch restaurierungswissenschaftliche Untersuchungen, die im Mai 2016 beginnen sollen.

1 Den Hinweis, dass die Wandbilder womöglich an die Bildmotive der manessischen Liederhandschrift erinnern, verdanke ich Thomas Danzl,  mit dem ich im Rahmen einer Vorortbesichtigung im Mai 2015 den Turm besichtigte. Er ist Experte für Konservierung und Restaurierung von Architekturoberflächen des 20. Jahrhunderts.  Dieser Hinweis war eine wichtige Grundlage für meine  weiteren Recherchen. 

2 Walther, Ingo F.: Codex Manesse. Die Miniaturen der Großen Heidelberger Liederhandschrift, Frankfurt am Main: Insel Verlag 1988, S. VIII.

Vgl.Erhebungsbogen zur Bestandserfassung des Dachbodens Q 617, SOkA Litoměřice, Fond Ghetto Theresienstadt-Selbstverwaltung, Technische Abteilung, Referat Bauwesen Inv. Nr. 147, Kart. 15

4 Bericht zur Kommissionierung der Dachböden des 4. Bezirks vom 26.2.1944 , SOkA Litoměřice, Fond Ghetto Theresienstadt-Selbstverwaltung, Technische Abteilung, Referat Bauwesen Inv. Nr.147, Kart. 15

5 Ebenda

6 Vgl.Arbeitsplan zur Freimachung des Blocks F IV – Z.10 vom 28.8.1944, Jüdisches Museum Prag, Bestand Theresienstadt/Terezín, Inv. Nr. 174

7 Ebenda

Heutige adresse

Q 617 – Kinderheim

Q 617 – Kinderheim

Máchova 178, 411 55 Terezín, Tschechische Republik

Máchova 178, 411 55 Terezín, Tschechische Republik

ZITIERHINWEIS

Fischer, Uta, Theresienstadt 1941-1945 – Materielle Zeugnisse und Spuren. Q 617 – Kinderheim, Berlin 31.3.2016, (Zugriffsdatum).

URL: https://ghettospuren.de/project/q-617

Bauliche Zeugnisse und AusStattung

Wandmalerei nach dem Motiv einer Miniatur aus der Großen Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse): Klingsor von Ungarland

Auf der westlichen Seite des Turmraumes ist ein vergleichsweise große Wandmalerei erhalten. Sie zeigt den Sängerkrieg auf der Wartburg bei Eisenach. Wer kann den bedeutendsten Fürsten auf die beste Weise preisen, darum geht es in der berühmten deutschen Sage. Einen Sieger sollte es nicht geben, vielmehr sollte der Unterlegene mit dem Tod bestraft werden.

Hauptakteure in dem Wettstreit sind der Sage nach folgende Dichter: Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach, Reinmar von Zweter, Heinrich von Ofterdingen, Biterolf, Klingsor von Ungarland und Heinrich, genannt der tugendhafte Schreiber.

Die Spruchdichtung „Klingsor von Ungerland“ stammt von mehreren Verfassern und  wird in der Literatur als „Der Wartburgkrieg“ bezeichnet. Der Wartburgkrieg hat sich allerdings  so nie zugetragen und gilt als Legende. Heinrich von Ofterdingen, Klingsor von Ungarland und Biterolf sind fiktive Figuren, die historisch nicht belegt sind. Reinmar von Zweter war zum Zeitpunkt des Ereignisses wohl noch ein Kind. Germanisten gehen daher von einer Verwechslung mit Reinmar von Hagenau aus.

Die folgenden Ausschnitte der Wandmalerei zeigen, dass der Künstler sich auch bei diesem Bild von Autorenbildern der manessischen Liederhandschrift inspirieren ließ: Die Miniatur des Klingsor von Ungarland und die Darstellung des Herrn Heinrich von Veldeke (Henric van Veldeken) dienten als Vorlage. Heinrich von Veldeke spielte beim Sängerwettstreit wiederum keine Rolle. Der Pfalzgraf und spätere Landgraf Hermann I. von Thüringen gilt jedoch als Mäzen des Dichters, der als Begründer des höfischen Romans nach französischem Vorbild in die Geschichte eingegangen ist.

 

Wandmalerei nach dem Motiv einer Miniatur aus der Großen Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse): Herr Kristan von Hamle

Dieses Wandbild ist eine bildkünstlerische Interpretation der Darstellung des Dichters Herr Kristan von Hamle aus dem Codex Manesse. Das Bildmotiv vom „Schreiber im Korb“ hat jedoch eine viel ältere Ursprungsgeschichte und geht zurück auf die Sage vom Zauberer Vergil. Darin verspricht die Angebetete dem werbenden Ritter, ihn in einem Korb zu sich heraufzuziehen. Sie lässt ihn jedoch auf halber Höhe am Seil hängen und setzt ihn damit absichtlich dem Gespött der Leute aus. Die Geschichte ist damit nicht zu Ende, denn Vergil rächte sich später für die Demütigung. In diesem Bild wirbt jedoch kein mittelalterlicher Ritter um die Gunst einer höfischen Dame – es handelt sich vielmehr um zwei Männer, die als entstellende antisemitische Karikatur dargestellt sind.

In zahlreichen Liedern und Erzählungen des Mittelalters ist eine ähnliche Sitte überliefert, die die Abweisung eines Werbenden zum Ausdruck bringen soll: Das Mädchen lässt einen Korb mit einem gelockerten Boden hinunter, der beim Heraufziehen zerbricht und den Werber herausfallen lässt. In einer anderen Version des Motivs wird der Freier in einem Korb zwar hinaufgezogen, sie lässt ihn dann jedoch aus großer Höhe zurückfallen. Jemandem „einen Korb geben“ – diese Redensart wird noch heute verwendet, wenn man von einer abgewiesenen Liebe spricht. Unmissverständlich offenbart diese Interpretation, dass die blonde Schönheit sich nicht mit den beiden Juden einlassen will. So gesehen ist dieses Motiv Spiegel der damals vorherrschenden Rassenideologie der Nationalsozialisten. Ihm kommt demzufolge eine Schlüsselfunktion zu, belegt es doch, dass es sich tatsächlich um ein Zeugnis aus der Zeit des Ghettos Theresienstadt handelt.

Das Bildmotiv und seine Darstellungsweise sind jedoch durchaus mehrdeutig: Die beiden Juden, hier inszeniert als hässliche Karikatur mit übergroßer Kochmütze, können auch als Ironie verstanden werden, wenn man um die Lebensverhältnisse des Ghettos weiß. Insbesondere Köche und Bäcker zählten zu einer attraktiven und bevorzugten Häftlingsgruppe, wenn es um die Partnerwahl ging. Dass „die Schönheit“ dem Koch „einen Korb“ gibt, erscheint aus diesem Blickwinkel eher unwahrscheinlich. Ganz im Gegenteil: Bäcker und Köche waren begehrte Partner, weil Frauen durch eine solche Beziehung nicht nur in den Genuss zusätzlicher Essensportionen kamen, sondern von dem besonderen sozialen Status des Mannes profitieren konnten, den Köchen unter den Bedingungen des Lagers zuteil wurde.

Die überzeichnete Darstellung der Kochmütze, Zufall ? Wohl kaum. Es ist zwar nicht klar, ob dem Maler des Bildes bekannt war, dass auf diesem Dachboden zumindest ein gewisse Zeit lang Köche ihr Quartier hatten, die in der zentralen Kinderküche arbeiteten. Unwahrscheinlich erscheint jedoch die Vorstellung, dass der Künstler von der Einrichtung einer Großküche im gleichen Gebäude nichts wusste. Quellen belegen zudem, dass Köche und Künstler häufig Allianzen bildeten: Für eine Extraportion Essen gestalteten Maler, Werbegrafiker oder talentierte Laien eine Ubikation aus oder fertigten auf Wunsch zum Beispiel ein Porträt an. Dass dies auch hier der Fall gewesen sein könnte, ist nicht hundertprozentig auszuschließen, angesichts des Symbolgehalts der Gesamtheit der Motive in diesem Turmzimmer jedoch wenig wahrscheinlich.

Wandmalerei nach Dem Motiv einer Miniatur aus der Großen Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse): Herr Walther von Klingen

Die Wandmalerei ist größtenteils nicht mehr erkennbar. Elektrokabel wurden über die Darstellung einer Frau verlegt. An anderer Stelle wurden Bereiche überputzt. Die noch vorhandenen sichtbaren Spuren können daher nur sehr grob beschrieben werden. Kein Zweifel besteht, dass dieses Wandbild in Anlehnung an die Miniatur des Herrn Walther von Klingen neu interpretiert wurde. Das Originalmotiv zeigt den Dichter beim Zweikampf während eines höfischen Ritterturniers, dem mehrere Damen zusehen.

Wandmalerei nach dem Motiv einer Miniatur aus der großen Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse): Herr Brunwart von Augheim

Wir sehen eine idealisierende Darstellung zum Thema Liebe: Mann und Frau stehen sich gegenüber, mit ausgestreckten Armen reichen sie sich die Hände. Auch diese Wandmalerei ist eine bildkünstlerische Neuinterpretation der Darstellung eines Dichters des Codex Manesse, des Herrn Brunwart von Augheim.

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